TEXT: REINHARD FULDE | FOTOS RAIMUND VORNBÄUMEN
Ein großes Dankeschön an den Fotografen Raimund Vornbäumen für diese fantastischen Bilder, die er in der Jazz-City Zeit für die Neue Westfälische eingefangen hat. Und an Reinhard Fulde, der uns mit seinen Texten in die vergangene Zeit eintauchen lässt.

»The Circus is in Town!« – So tönte es, wenn Lester Bowie mit seiner Brass Fantasy oder, noch auffälliger, mit dem Art Ensemble of Chicago in Gütersloh einmarschierte. Ihre farbenprächtigen Masken und Kostüme, ihr riesiges Arsenal an Instrumenten und die theatralische Mimik und Gestik der Musiker ließen jedes Konzert zu einer Show werden, die z. T. eher ans Vaudeville Theater als an ein sonst doch eher »nüchternes« Jazzkonzert erinnerte. Jedes Konzert wurde so zum ereignisreichen Event. Die tatsächlich zeitlose Musik des Ensembles war »Weltmusik«, im wahrsten Sinne des Wortes: Da wurden afrikanische Gesänge und Trommler mit einbezogen, nebeneinander gab es Free Jazz Passagen und Rockklassiker (Hörttipp: »Purple Haze«) oder man schwelgte gar in Reggaeklängen (»No woman, no crying«). Folgerichtig nannte Lester Bowie seine Musik auch nicht Jazz‑, sondern Great Black Music‑, was bedeutet, dass alle Stile und Elemente der schwarzen Tradition gleichberechtigt nebeneinander standen.
Lester Bowie selbst galt einerseits als »flamboyanter Performer mit einem Flair für Comedy und Musikparodie« (Ian Carr), andererseits aber auch als großartiger, technisch versierter Trompeter (1982 im DOWNBEAT: Trompeter des Jahres) mit einer Spielweise, die die gesamte Trompetentradition widerspiegelte: So umfasste sie nicht nur die typische New Orleans-Stimmung eines Louis Armstrongs oder die Duke Ellington-Atmosphäre, sondern auch die Einflüsse eines Miles Davis oder Don Cherry. Manchmal komme ich mir bei den Recherchen für diesen Blog wie ein forschender Historiker vor: Verdammt lang her… Dabei passieren auch schon mal kleine Fehler. Hatte ich im letzten Blog John Scofield mit sieben Auftritten in Gütersloh zum Rekordhalter erklärt, so muss ich mich jetzt selbst berichtigen: Lester Bowie war achtmal hier: Zum ersten Mal bereits 1984 in der Martin Luther Kirche mit den Gospelsängerinnen Martha Bass und ihrer Tochter Fontella Bass, die später seine Ehefrau wurde. 1986 in einer Veranstaltung des Jugendkulturrings (aber von Josef organisiert) und deshalb nicht im Anhang des Programmhefts vertreten, danach bis 1995 noch sechsmal u. a. mit dem Art Ensemble of Chicago und The Leaders.


William Lester Bowie (* 11. Oktober 1941 in Frederick, Maryland; † 8. November 1999 in Brooklyn) war ein US-amerikanischer Jazztrompeter, -Bandleader und -Komponist. Ende der 1960er Jahre, war er Mitbegründer eines der maßgeblichen Free-Jazz-Ensembles, des Art Ensembles of Chicago, das einen Bogen von Afrika über Gospel-Songs bis zum zeitgenössischen Jazz schlug.
The Art Ensemble
Auch zwischen Lester und Josef entstand sofort eine Freundschaft, leicht daran zu erkennen, dass er immer wieder gerne nach Gütersloh kam, ja von ihm bzw. seinem Management aus regelmäßig Anfragen kamen, wann sie hier wieder auftreten könnten. Lester liebte Zigarren, und Josef bediente diese Vorliebe schon ab dem zweiten Konzert: In den USA gab es zu dieser Zeit offensichtlich ein Verkaufsverbot für die berühmten kubanischen, von Kennern hochgeschätzten Havanna Zigarren. Dank guter Beziehungen hatte Josef davon immer einen guten Vorrat parat und Lester genoss dies mit fast kindlicher Freude. Bis heute habe ich noch den Geruch in der Nase, wenn wir nach dem Konzert in der Garderobe zusammensaßen und der Raum schon bald von undurchdringlichen Qualm Wolken (nicht nur von der Havannazigarren) erfüllt war. Einmal gab ich übrigens Josefs Drängen nach und zog (als Nichtraucher) einige Male an einem der guten Stücke. Den Geschmack hatte ich tatsächlich über zwei Tage im Mund.


Eine besondere Beziehung verband uns auch mit dem Multiinstrumentalisten des Art Ensembles, Joseph Jarman, der als der »Intellektuelle« der Gruppe galt. So feierten wir mit ihm 1987 seinen 50. Geburtstag, eine Widmung auf einem wunderschönen Plakat der Gruppe erinnert mich heute noch daran. 1996 verließ er die Gruppe, um in ein buddhistisches Kloster einzutreten. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Diskussionen der anderen Musiker darüber, vor allem an ihre Schadenfreude, als er enge Jahre später wohl gezwungen wurde auszutreten: »They defrocked him They defrocked him!«, d.h. sie warfen ihn aus dem Orden, wörtlich: Nahmen ihm seine Kutte (= frock) – Da hatte ich weder einmal ein mir vorher unbekanntes englisches Verb gelernt…
Plattentips:
The Great Pretender
Avant Pop
The Art Ensemble of Chicago
and Associated Ensembles
The Leaders: Out Here Like This
